Rassismus und Jim Knopf

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Black-Facing bei Wetten Dass…? – wenn das nicht ein passender Abschluß des Jahres ist, das mit einer Debatte um die Streichung rassistischer Begriffe aus Kinderbüchern begann. (Naja, zumindest fast – ich dreh mir das jetzt kalendarisch so ein bißchen hin wie’s mir paßt um am Jahreswechselmythos festhalten zu können. ;-)) Neben dem Black-Facing und seinen VerteidigerInnen, wäre an der ganzen Augsburg-Aktion eigentlich auch zu problematisieren, wie denn der Aufhänger, [Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer bzw. deren mehrfache (!) Adaptionen durch die Augsburger Puppenkiste als lokaler Bezug] so völlig unthematisiert bleiben konnte. Wieso, um Himmels willen, muß denn von allen Geschichten, die die Puppenkiste jemals umgesetzt hat, nun ausgerechnet Jim Knopf verkleidungstechnisch umgesetzt werden? Es hätte ja auch das Urmel sein können. Offensichtlich hat das aber nicht den gleichen Stellenwert im kulturellen Gedächtnis – vielleicht weil ihm die weltanschauliche Gehalt von Endes Büchern fehlt?

 

In anderen Worten: scheinbar geht es nicht nur um Nostalgie, also um Assoziationen wie Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Helden unserer Kindheit, in Buchform oder als putzige Marionetten der Augsburger Puppenkiste, ach wie schön. Ganz warm wird einem da ums Herz.  

Wenn Kinderbücher mit Märchen etwas gemeinsam haben, dann ist es ihre pädagogische Botschaft, die “Moral von der Geschicht’” – genau darin soll dann ihr Wert gegenüber simplen Abenteuergeschichten bestehen – so kann man dann auch lesen, daß Jim Knopf eine Anti-Nazi-Parabel sein soll. Wenn man sich da in seinen nostalgischen Gefühlen nicht gleich noch besser fühlen kann, weil in dem Wissen bestätigt, daß es sich hier um moralisch einwandfreie Kinderliteratur erster Güte handelt.

 

Vor ziemlich genau fünf Jahren hat Julia Voss in der FAZ nämlich unter dem Titel Jim Knopf rettet die Evolutionstheorie erklärt, das sich Michael Ende in seinem Kinderbuch mit der Vereinnahmung Darwins durch die Nazis auseinandersetze. Als ‘Schlüsselmoment’ für das Verständnis der beiden Jim Knopf-Bücher benennt Voss eine Neuerzählung des Atlantis-Mythos. Der versunkene Kontinent ist in der Wilden 13 keine arische Übermenschenwelt  sondern Multikulti-Tummelplatz verschiedenster stereotyper ethnischer Gruppen mit paradiesischer Symbolik. Wie sich herausstellt (Achtung, Spoiler) ist Lummerland soetwas wie die Spitze dieses Atlantis-Eisbergs – eine irgendwie seltsame Angelegenheit, denn Lummerland ist von Voss auch schon als eine Metapher für das England der Kolonialzeit dechiffriert worden. Vielleicht sollte das auch ganz avanciert heißen, daß der kapitalistische Liberalismus mit Kolonialismus aufs engste verbandelt ist – aber man darf es bezweifeln.

 

Das zweites Indiz dafür, wie sehr Ende vom NS beeinflußt gewesen sei, ist das Rassenreinheitsgebot der Drachen – Kummerland ist entsprechend beschildert mit „!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten.“ In Frau Mahlzahns Schule werden dann auch Kindern mit zackigem Befehlston falsche Wahrheiten (aka Rechenaufgabenergebnisse) eingeprügelt. Die Schilderung der Szenerie in der Drachenstadt weckt auch darüberhinaus KZ-Assoziationen: das rauchende Ofenloch, in das man mit dem Zug (die arme als Drachen verkleidete Lokomotive Emma) hineinfährt, drinnen ist es voller Rauch- und Gasschwaden und Rampen gibt es auch noch.

 

Hier endet allerdings die Parallele auch schon – denn es wird niemand ermordet sondern nur Kinder gequält. Der böse Drache wird dann entsprechend auch nicht umgebracht, nicht einmal eingesperrt, sondern kurzerhand ‘umgedreht’ – in einen goldenen Drachen der Weisheit verwandelt. Wenn wir jetzt noch bei der NS-Analogie bleiben wollen, ist das also Lernen aus, nein sogar moralische Besserung durch Auschwitz?!

 

Ich glaube, wir brechen das Gedankenexperiment an der Stelle lieber ab, oder?

 

Also ja, Michael Ende war offensichtlich kein Nazi und trotzdem war er – als zum Kriegsende 15-jähriger - vom Nationalsozialismus geprägt. Soweit, so banal. Das heißt aber noch nicht, daß sein Buch nicht rassistisch sein kann.

 

Jim Knopf heißt Jim, weil Lukas fand, daß er „einfach so aussieht“. Also offensichtlich nicht wie ein Michael, Peter, Klaus oder Hans. (nach dieser Website die beliebtesten Vornamen der 1950er Jahre; unter den 150 genannten Namen sind zwar Abdul, José, Mohammed, Andrzej und John, aber kein Jim)  Weil: er ist ja auch schwarz. Da kann er ja wohl kaum so einen banalen Vornamen haben, oder? (Hint: das könnte jetzt schon rassistisch sein, ne?)

Assoziative Kette? Warum gerade Jim? Fällt uns noch ein Jim ein? Vielleicht aus einem Kindbuch? Gab es nicht eine Figur namens Jim bei Huckleberry Finn? Ist ja auch egal…

 

Laut Voss ist Jim Knopf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach Jemmy Button benannt, “ein[em] farbige[n] Junge[n], der, wie ein Findling ohne Wurzeln und Herkunft, in einer neuen Welt die Augen aufschlägt.” Was natürlich nicht in dem Artikel steht, ist daß besagter ‘Jemmy Button’ eigentlich Orundellico hieß und von Briten aus Feuerland verschleppt worden war um für eine Weile ein Kuriositätendasein in Großbritannien zu führen.

 

Charles Darwin charakterisierte seinen Mitreisenden wie folgt (wörtliches Zitat aus einer deutschen Übersetzung von “The Voyage of the Beagle” nach JV):

„Jemmy Button war der Liebling aller, aber ebenfalls leidenschaftlich; sein Gesichtsausdruck zeigte sogleich sein freundliches Gemüt. Er war fröhlich, lachte oft und war bemerkenswert mitfühlend mit allen, die Schmerzen litten.”

Na, wenn das nicht mal völlig unproblematisch ist! Ein liebenswert-harmloser Schwarzer mit großem Einfühlungsvermögen? Das geht ja überhaupt nicht in die Richtung Stereotyp. Oder hat jemand eine Wassermelone gesehen? In der selben Textpassage des Originaltextes wird übrigens auch noch erwähnt, daß Jemmy Button sehr eitel und eifersüchtig auf andere gewesen sei. Und der obligatorische Vergleich der entführten Feuerländer'*innen mit kleinen Kindern kommt natürlich auch. (vgl. Charles Darwin: The Voyage of the Beagle bei Project Gutenberg)

 

Ich weiß zwar nicht so richtig was die Stelle in Julia Voss’ Artikel so genau sagen soll – aber wohl, daß sich die Charakterisierung von Jim Knopf mit der von “Jemmy Button” deckt. Ergo: *stereotyp-cringe*

 

Jim Knopf reist nun also mit seinem Vaterersatz Lukas nach China, das – wär hätt’s gedacht - nur so wimmelt von rassistischen Klischees? Chines*innen haben unglaublich viele Kinder, essen die ganze Zeit Reis und der Oberbonze ist natürlich dick, machtversessen und neidisch. Weil das in den Neuauflagen doch etwas too much erschien, wurde ein Versuch unternommen, China in “Mandala” umzubenennen – ein Terminus der dem Hindi kommt aber über den Buddhismus auch eine Tibet-Assoziation bietet. Tja. Auch nicht so gelungen. Aber Hauptsache irgendwie ostasiatisch. Wer kann die schon alle auseinander halten?! (Achtung, Ironie)

 

Das ist jetzt alles kein “Skandal” in dem Sinne – ich meine, wir sprechen hier von einem deutschen Kinderbuch der 1950er, da kann bzw. muß man mit orientalistischen Stereotypen, Exotismus, Rassismus, Sexismus etc. pp. natürlich rechnen. Aber genau da könnte man doch auch einfach sagen, liegt der Zeitkern der Kinderliteratur – nur weil man es selber als Kind gern gelesen hat, hat es keinen intrinsischen Wert, der dem Zahn von Zeit und Fortschritt zu trotzen vermag. Die Idee ist doch schon, Kindern wenigstens den Status Quo der Entwicklung von Egalität zu vermitteln, und nicht, ihnen erst mal Gedankengut von vorvorgestern einzutrichtern, um das dann – Plot Twist! – kritisch zu hinterfragen.

 

Nun kommt aber erschwerend hinzu, daß sogar noch zur Verteidigung Endes vorgebracht wird (also in dem Fall von Julia Voss), daß Michael Ende eben nicht nur ein eskapistischer Schreiberling war, sondern auch politische Ideen verfolgt hat – im oben genannten Artikel deutet sich das im Verweis darauf an, daß Ende Rudolph Steiners Essay „Darwinismus und Sittlichkeit“ an erster Stelle in einer Liste von Texten nannte, die ihn beeinflußt hätten. Während JV sich auf den Darwinismus fixiert, wäre anzumerken, daß es sich bei besagtem Essay um ein Kapitel aus Steiners Philosophie der Freiheit handelt und “Darwinismus und Sittlichkeit” nur dessen Untertitel ist. (XII. Die moralische Phantasie) In dem Text selber geht es um den Progress des ethischen Individualismus der mit der Evolutionstheorie verglichen wird; um Darwin geht es dabei allerdings nicht, vielmehr um den Versuch einer quasi naturwissenschaftlichen Begründung von Sittlichkeit.

 

Statt dessen könnte der Verweis auf Steiner ganz andere Aspekte in Endes Werk beleuchten, möchte man es sich denn so genau ansehen: beispielsweise daß der Atlantis-Mythos keineswegs eine Erfindung der Nazis war, sondern u.a. auch im deutschen Vor-NS-Theosophismus von Rudolph Steiner eine Rolle spielte. Stichwort Wurzelrassentheorie. Insofern ist auch Endes Umdeutung alles andere als erstaunlich oder gar revolutionär. Man muß ihm sein Gutmenschentum auch nicht absprechen, um solche Erzählungen problematisieren zu können.

 

Allerdings läßt sich durchaus feststellen, daß sich ein antimoderner Romantizismus durch Endes Bücher zieht, in denen exotisierte Kinderfiguren als eine Art zivilisationsunverdorbene Heilsbringer fungieren, den den Übeln der Moderne unter Rückgriff auf die so einfachen wie ewigen moralischen Wahrheiten des Guten widerstehen bzw. ihnen den Garaus machen.

 

BTW: Michael Ende war nicht nur Antroposoph sondern auch Anhänger von Silvio Gesells Geldtheorie. Damit erklärt sich dann auch, daß man sich den Antisemitismus in Momo oder dem satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch nicht nur eingebildet hat. Weil das jetzt wirklich den Rahmen meines sowieso schon vom Hundertsten ins Tausendste Kommen-Rants sprengen würde, nur ein kurzer Hinweis, auf dem Blog Nichtidentisches wurde das Thema schon mal behandelt: Wie Michael Endes falscher Kapitalbegriff zum Antisemitismus treibt...

 

Angesichts dieser Fülle von Problematiken das Anliegen zu verfolgen, Michael Ende vor den Eskapismusvorwürfen zu retten, mit denen er sich Zeit seines Lebens konfrontiert sah und die heutzutage wirklich niemand mehr erheben würde, erscheint mir doch sehr befremdlich. Tatsächlich liegt Endes Bücher sehr deutlich eine politische Programmatik zugrunde, die – selbstverständlich – im Vergleich zu den Nazis gutmütig, niedlich und harmlos erscheint – aber mit den Nazis können halt (glücklicherweise) auch wenige mithalten. Unter dem Aspekt, was man seinen Kindern heutzutage an Werten vermitteln möchte, sollte Endes Werk aber wirklich nicht mehr die erste Wahl sein.

 

Trotzdem scheint es aber einen Unwillen zu geben, nostalgisch besetzte Kinderbücher auf ihren Inhalt zu reflektieren – wie (laut Zeit) eine Umfrage zur Streichung der rassistischen Begrifflichkeiten ergab, sind überraschenderweise gerade sog. “höhergebildete” Menschen gegen Neuformulierungen. Wenn sich schon dagegen gesträubt wird einzelne unzweifelhaft (!) rassistische Worte aus den Büchern zu entfernen, wie wahrscheinlich ist es dann, daß der vorhandene rassistische Gehalt überhaupt erkannt wird? Nur weil man ein Wort durch ein anderes ersetzt wird die Sache ja nicht gleich anti-rassistisch. Und essentialistische Zuschreibungen qua ethischer Zugehörigkeit sind ja nun fraglos als solche zu betrachten.

 

Nun ja, Jim Knopf hat also Darwin vor den Nazis gerettet und damit uns vor dem Verdacht des Rassimus…

Was soll man dazu sonst noch sagen? Very well done, indeed.

Wetten dass… das nicht so gemeint war?!

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Manchmal, wenn ich so ins Internet gucke, überkommt mich eine unerwartete Sympathiewelle mit allen Menschen dieser Welt, die sich mit Kindern auseinandersetzen müssen. Spezifischer mit der Aussage “Ich war’s nicht!” trotz Zeugenaussagen (“Petze!”) und überwältigender Indizienlast (die Keksdose ist leer). Scheinbar ist es bisweilen unmöglich, das Offensichtliche zuzugeben bzw. überhaupt zu akzeptieren, daß es offensichtlich ist und sich einer Umdichtung durch die eigene Interpretation entzieht. Während Kinder dann u.U. einfach bockig sind, wäre ein erwachsener Umgang, eine objektive Reatität außerhab der eigenen Wahrnehmung zuzugestehen, die Verantwortung für Handlungen zu übernehmen, sie und sich selbst zu reflektieren und sich ggf. zu entschuldigen.

 

In der Realität laufen Konflikte leider und unglaublicherweise auch unter Erwachsenen immer und immer wieder nach dem Kinder-Schema F ab. Neuestes Beispiel, die Wetten Dass…? –”Black Facing”-Geschichte: Eine "erwachsene” Reaktion hätte ungefähr so ausgesehen:” Oh ja, ihr habt recht, das war echt ne Nullnummer, sorry, kommt nicht wieder vor, wir geloben Besserung.” Und damit würden sich vermutlich alle Beteiligten zufrieden geben. Statt dessen wird aber erst mal auf stur gestellt. Ich war’s nicht, heißt dann “Wir haben uns doch nix (Böses) dabei gedacht, ich verstehe gar nicht wieso wir jetzt was zugeben sollen, was wir gar nicht getan haben.” Und etliche Menschen sehen sich bemüßigt, diese Taktik auch noch zu affirmieren – mit einer Flut von Tweets, Posts, Kommentaren und Artikeln… Und da wird es dann erst so richtig widerlich.

 

Gesinnungsethik ist bekanntlich eine deutsche Spezialität: wenn man etwas “so nicht gemeint hat”, dann ist es selbstverständlich auch nicht so. Dumm nur, wenn nicht alle die gleiche vulgär-idealistische  “Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt”-Blase bewohnen, sondern einige Menschen außerhalb sich zu recht darüber beklagen, daß es ja wohl nicht sein kann, daß Rassisten festlegen was Rassismus ist. Aber auch dafür hat man in der Idealismus-Bubble bereits die perfekte Abwehrmethode entwickelt: “Jetzt kommt uns nicht mit euren subjektiven Befindlichkeiten!” schreit man den KritikerInnen entgegen, denn die Idealismus-Bubble kommt selbstverständlich mit Objektivitätsanspruch. Und wer den als erster beansprucht hat, der darf ihn auch behalten. Ey, älteste Spielregel wo gibt. Und anders gülded nicht.

 

Also ist es auch voll kindisch (Lieblingsvokabel: infantil) von den Kritiker*innen, ihnen das redlich erworbene Recht des Rechthabens jetzt auch noch streitig zu machen. Ist doch schon verdächtig, wenn man sich nicht nur nicht an die Spielregeln hält, sondern auch immer und immer wieder über sie diskutieren muß. Und nervig. Und überhaupt, sich immer mit den Außerbubble-Perspektiven befassen zu müssen, verdirbt einem voll den Spaß. Ich meine: Geht’s noch?! Schlimm genug dauernd mit dem Subjektivitätsscheiß dieser ganzen selbsternannten Gutmenschen konfrontiert zu werden, aber dem auch noch nachzugeben?! Keinesfalls! Dann lieber die beliebte Alibi-Karte zücken und jemanden finden, der die eigene Position bestätigt. Schau mal, XY, der/die ist schwarz und fühlt sich gar nicht beleidigt. Also, müßt ihr spaßfreien TugendterroristInnen jetzt aber auch zugeben, daß es eigentlich nur darum geht, euch besser zu fühlen, denn XY geht’s ja gar nicht schlecht. Höhöhö.

[/ironie]

 

Daß auf jede*n XY, der*die als Zeug*in für die angebliche Harmlosigkeit der getätigten Aussagen herangezogen werden kann, ein vielfaches von Betroffenen kommt, die sich durchaus getroffen und verletzt fühlen, wird selbstverständlich gewissenhaft ignoriert.

 

Was ich eigentlich interessant daran finde, ist daß es offensichtlich so ein totales No Go ist, einen rassistischen Faux-Pas zuzugestehen; statt dessen wird – vorgeblich als Verteidigungsstrategie - lieber das gesamte Wahnsystem ausgepackt, damit auch wirklich kein Zweifel mehr dran besteht, daß es eben nicht nur ein Faux-Pas war. Dabei wäre es zur Schadensbegrenzung eigentlich wirklich klüger, einfach zugeben, daß man nicht für 5p mitgedacht und deswegen seinem unreflektierem Ressentiment freien Lauf gewährt hat. Aber vermutlich ist es eine zu große narzisstische Kränkung mal nicht recht zu behalten…

 

Und Rassist*innen, das sind immer nur die anderen. (Ebenfalls gute deutsche Tradition) “Rassist/in” das kann man nur als “Nazi” denken, also als jemanden, dessen ganze Identität sich ums rassistische Weltbild dreht, der Molotov-Cocktails in Asylbewerber*innen-Unterkünfte wirft und dazu die erste Strophe des Deutschlandliedes singt. Alle anderen sind fein raus.

 

Tatsächlich sind aber rassistische Einstellungen sehr viel fragmentarischer, also nicht die ganze Identität bestimmend, ja nicht mal notwendig an eine rechtsradikale Weltanschauung geknüpft. Das kann ganz ‘harmlos’ in Stereotypen daherkommen wie der Idee, People of Colour hätten ein besseres Rhythmus-Gefühl und könnten deswegen so toll tanzen (ja, es gibt auch ‘positiven’ Rassismus). Oder daß sich ständig Leute bemüßigt fühlen nachzufragen, woher die Person denn kommt, die da so offensichtlich nicht deutsch, also weiß, aussieht. Soll heißen: das rassistische Spektrum ist deutlich breiter als der deutsche Mainstream wahrnehmen möchte.

 

Nur so läßt es sich überhaupt erklären, daß nach Meinung der Mehrheit nicht nur das Blackfacing bei Wetten dass…? total unproblematisch war, sondern auch die unreflektierte Nostalgie gegenüber Michael Endes Kinderbuch. (See follow-up post) Überhaupt möchte man in Deutschland Rassismus in Kinderbüchern am liebsten ignorieren, das hat ja schon die N-Wort-Debatte vor einem Jahr deutlich gezeigt. Egal was der Aufhänger ist, es führt immer dazu, daß berechtigte Kritik im Zuge eigener Nicht-Betroffenheit abgewehrt wird: Ich verstehe nicht, was das Problem ist, also kann es auch objektiv keins geben. Ich meine es nicht so, also ist es auch objektiv nicht so gemeint.

 

Ist Deutschland wirklich so provinziell, daß solche Aussagen immer noch mainstream-kompatibel sind?

Sind so viele Menschen wirklich nicht in der Lage sich aus einer so infantilen Weltsicht zu befreien? Ich kann soviel Borniertheit einfach gar nicht fassen…

Oppressed White Male Alert!

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Ein paar Anmerkungen zum Artikel „Repression für alle“ von Leo Fischer

So viel schlaues hätte eins schreiben können zum Begriff des Privilegs. Gerne auch Kritisches. Das geht aber nur, wenn nicht schon im Voraus klar ist, dass das ja ohnehin alles repressiver Quark ist. Weil: wer von Privilegien spricht, will anderen, nämlich den Privilegierten, immer nur was wegnehmen!

Und so kommen, wo auch immer Menschen über „männliches/weißes/heterosexuelles Privileg“ sprechen, die selbsternannten Freiheitskämpfer angelaufen, um laut irgendwas von „Unterdrückung!“ zu schreien. Analog zur Aussage „die Kommentare unter jedem Beitrag zum Feminismus rechtfertigen den Feminismus“ ließe sich ähnliches zur Privilegiendebatte sagen, da rassistische, sexistische oder anderweitig -istische Ausfälle in der Regel nicht lange auf sich warten lassen. Dazu wird abgewehrt, diffamiert und fleißig an Strohmenschlein gebastelt, um sich bloß nicht für eine Sekunde die Reflexion der eigenen Verstricktheit in die Verhältnisse zumuten zu müssen.
Letztens bin ich im Konkret Magazin über einen Artikel gestolpert, der diese Strategie auch noch als Kritik verkauft, sich aber eigentlich von den üblichen Internetkommentaren zum Thema „männliches Privileg“ nur dadurch unterscheidet, dass sein Autor das Akademikerdeutsch „kritischer Theoretiker“ besser beherrscht.
Der Artikel trägt den vielsagenden Titel „Repression für alle“ und war bis vor einer Weile noch online nachzulesen. Ich habe ihn leider nirgends mehr finden können, was zu Demonstrationszwecken natürlich bedauerlich ist, andererseits würde es mich freuen, wenn jemand diesen Mist bewusst vom Netz genommen hätte. Im besten Fall natürlich der Autor selbst. [Edit Daisy: Der Conne Island Newsflyer hat den Beitrag noch einmal abgedruckt; online lesbar unter CEE IEH #209: Repression für alle.]

Zum Thema des Privilegs, das er vorgibt zu behandeln, ließe sich wie gesagt einiges an schlauen Dingen schreiben. Ich möchte hier aber nicht meine eigenen 50 ct dazugeben, sondern lieber kurz über die Strategie reden, derer sich dieser Artikel bedient, um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema gar nicht erst zuzulassen. Mir scheint diese Methode schon länger das Schema-F der Leute zu sein, die zwar immer irgendwas von kritischer Theorie erzählen, sie aber nur noch als Mittel zur Abgrenzung und Rechthaberei gebrauchen können.
Der erste Punkt auf den ich dabei eingehen möchte ist die Strategie der Abwertung eines Themas zur bloßen subjektiven Befindlichkeit irgendeiner Splittergruppe. So wird von Anfang an suggeriert, dass es sich dabei keinesfalls um irgendetwas von gesellschaftskritischer Relevanz handeln kann. Der erste Satz den Leo Fischer als Untertitel oder Zusammenfassung seinem Artikel voranstellt, lautet z.B. so:
„Die Sensibilitäten eines Jugendzentrums zu verstehen, dem eine nackte Brust als Gewalt gilt, mag manchen überfordern. Der Fall ist jedoch insofern symptomatisch, als der Begriff (männliches) Privileg im Zentrum der Debatte steht.“
Der Fall ist tatsächlich symptomatisch, wenn auch in anderem Sinne, als Fischer das hier meint. Worum es geht ist der Vorfall im AJZ Bielefeld, als ein Mitglied der Punkband Feine Sahne Fischfilet sich seines Shirts entledigte und daraufhin gebeten wurde, dies zu unterlassen, da eventuell Opfer von sexueller Gewalt sich getriggert fühlen könnten. Der Vorfall wurde breit diskutiert, mal mehr mal weniger vernünftig, z.B. hier und hier und ich möchte dazu eigentlich nichts weiter sagen.
Symptomatisch ist nun, dass Fischer diesen Vorfall von vornherein als Sensibilitäten eines Jugendzentrums abtut: die sind halt empfindlich, die sollen sich mal nicht so anstellen, blablabla. Das hat nämlich nichts mit gesellschaftlichen Normen (und schon gar nicht mit Privilegien) zu tun, dass sich manche Menschen jederzeit oben frei machen können, während andere dafür beleidigt, geschlagen, oder verhaftet werden. Insofern könnte eins es auch einfach als Ausdruck der Solidarität verstehen, auf dieses Privileg zumindest für die Stunde oder zwei die so ein Konzert dauert zu verzichten, damit alle entspannt zusammen feiern können. Nein? Nein, denn der vorhin zitierte Satz lautet in der Vollversion so: „Die Sensibilitäten eines Jugendzentrums zu verstehen, dem eine nackte Brust als Gewalt gilt, das aber einen Holocaustüberlebenden wie Karl Pfeifer von Veranstaltungen ausschließt, weil er als „Zionist“ identifiziert wird, mag manchen überfordern. (…)“ 
Überfordern? Wieso? Schließlich befinden wir uns in Deutschland und die Wahrscheinlichkeit hier Antisemit_innen ist dementsprechend hoch. Was mich überfordert ist der hier reichlich subtil angedeutete kausale Zusammenhang zwischen irgendwelchen „Sensibilitäten“ gegenüber nackten Männerbrüsten und dem Antisemitismus. Der existiert so nicht. Alles was damit erreicht werden soll, ist eine weitere Delegitimierung und Abwertung des „Gegners“, im Falle dieses Artikels sind das „Queerfeminist_innen“ „Linke“ und offensichtlich alle, die sich in der Theorie wie in der Praxis irgendwie kritisch mit Privilegien auseinandersetzen. Diese Abwertung wird weitergeführt in Formulierungen wie „(...) der durchgeknalltere Teil der queerfeministischen Szene (...)“, woran sehr schön das Maß an Differenzierung sichtbar wird, die hier geleistet wird. Offensichtlich ist der Autor immerhin in der Lage, zwischen einem durchgeknallten und einem durchgeknallteren Queerfeminismus zu unterscheiden. Bravo.
Ansonsten handelt es sich bei dieser Szene aber selbstverständlich um einen homogenen Block. Das muss auch so sein, denn sonst funktioniert der nächste Trick nicht mehr.
Der geht so: aus dem Monolithen picke sich eins den offensichtlichsten Blödsinn heraus und kritisiere diesen stellvertretend für das Ganze. Hier müssen Peggy McIntosh und Andrea Smith als pars pro toto herhalten. Hätte Fischer sich aber die Mühe gemacht, für seinen Artikel ein wenig Recherche zu betreiben, oder mal einen Blick in die verhasste „queerfeministische Szene“ zu werfen, hätte er ziemlich schnell festgestellt, dass es auch innerhalb der „Szene“ Kritik an deren Privilegienbegriff und Theorien gibt. Und zwar um einiges differenzierter als das was er selbst abliefert, denn bis jetzt hat er zum Privilegienbegriff eigentlich nur folgendes zu sagen:
„Privileg ist ein Wort, von dem auch geduldigen Lesern linker Blogs und Pamphlete mittlerweile speiübel werden dürfte, so omnipräsent wie es ist; wie Glutamat wird es über fade Textprodukte gestreut, die aus eigener Kraft kaum nach Kritik schmecken. Es entstammt jenem Heimwerkerbedarf für Theorie, der überall dort aufmacht, wo kritische Wissenschaft erfolgreich aus den Universitäten getilgt wurde und ihre Reste in studentischen Lektürezirkeln und offenen Seminaren studiert werden, wie kuriose Fossilien. Ähnlich wie bei den Szenevokabeln „Übergriff“ „triggern“ und „Kackscheiße“ ersetzt dabei die Wut, die den Begriffen injiziert wird, die Theorie, die ihnen nicht mehr zur Verfügung steht.“
Als ziemlich ungeduldige Leserin linker Blogs, Zeitschriften etc. kann ich guten Gewissens sagen, dass mir das Wort Privileg keine Magenbeschwerden verursacht. Wovon mir jedoch inzwischen speiübel wird, ist dieser nach Zustimmung geiernde Jargon, der wohl irgendwie an Adorno erinnern soll. Aber da wo Adornos Sprache den Versuch darstellte, sich dem Gegenstand anzunähern, ihm mit Begriffen so gerecht wie möglich zu werden, wird hier nur noch versucht, sich den Gegenstand soweit wie möglich vom Hals zu halten. Mal ganz davon abgesehen, dass Adorno das Verhältnis von Kritik, Wissenschaft und Universität etwas problematischer fand, ging es auch nicht darum, die Wut aufs Bestehende durch eine Tasse Tee im Elfenbeinturm zu ersetzen, bei der es sich schön objektiv und neutral über die Verhältnisse reden lässt.
Aber so hat man sein Ziel schon nach der Hälfte des Artikels erreicht. Man hat sich selbst bewiesen, dass die Auseinandersetzung mit dem Privilegienbegriff unnötiger Schwachsinn ist und hat sich gleichzeitig von der Zumutung zur Selbstreflexion befreit.

Der Rest des Artikels fällt in die Kategorie „Was ich sonst noch Zusammenhangloses zum Thema sagen wollte“ und ich will nur noch kurz auf einen Punkt eingehen, der mich in dieser Form einfach zu sehr geärgert hat, um ihn stillschweigend zu ignorieren. Aber eigentlich ist fast an jedem Satz irgendwas falsch, das ist auch eine Leistung. Hier mein persönliches Highlight:
Fischer behauptet, es ginge den Kritiker_innen von Sexismus, Rassismus und anderen -ismen lediglich um einen gerechteren Kapitalismus. Das sei aber verwerflich, weil: „den Kapitalismus gerechter machen heißt, ihn zu stabilisieren.“
Ok... aber ist das nicht irgendwie das Dilemma der Revolutionär_in in unrevolutionären Zeiten? Ich kann mich noch dunkel erinnern, als das Credo „der Partei“ lautete, in solch einem Fall müsse eins sich eben für das kleinere Übel enterscheiden. Liberalismus oder Barbarei hieß das damals, glaub ich. Demgegenüber wäre es mir auch neu, dass man die Verelendung der Massen jetzt wieder prima findet, weil dann der Kapitalismus ins Wanken gerät. Hier wird bewusst Diskriminierung und Ausbeutung in Kauf genommen und das auch noch als revolutionärer Akt verkauft. Aber ich versteh schon. Was geht mich das Elend anderer Leute an? Mit dem Gütesiegel „unrevolutionär“ hat man die ganzen -ismen mal schnell zum Nebenwiederspruch erklärt und muss sich nicht weiter mit so was wie (Selbst)reflexion rumärgern. Über die eigene Stellung nämlich. Und die damit verbundenen Handlungsspielräume, die Privilegien.
Da ist es auch nur konsequent, wenn dann wie in den üblichen Forenkommentaren der Männerrechtler bejammert wird, dass die bösen Queerfeminist_innen ja einfach nur die Unterdrückung umkehren wollen, durch das Verbot „selbstverständlichster Freiheiten“, die sie einem einfach wegnehmen, und irgendwas davon, sich ja auch noch schuldig fühlen zu müssen, wenn es nach diesen schrecklichen Emanzen ginge. Wie man sich dabei noch ohne schlechtes Gewissen auf Adorno beziehen kann, ist mir lange ein Rätsel geblieben. Inzwischen habe ich jedoch rausgefunden, dass es glücklicherweise in jenem „Heimwerkerbedarf für kritische Theorie“ auch ein Regal mit Adorno Zitaten für jede Gelegenheit gibt. Ich werde es dem Autor also nach machen und zum Ende noch einmal beherzt zugreifen:
„Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.“ (Adorno, Minima Moralia)

Hier möchte ich noch auf einen ausgezeichneten Text von John Scalzi hinweisen, der das Prinzip Privileg mit Hilfe einer Videospielanalogie als leichtesten Schwierigkeitsgrad erklärt. Der Artikel ist zwar auf Englisch, dafür aber auch für nicht-gamer verständlich:

Eine Erinnerung an die Zukunft der Vergangenheit

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Unter dem Titel "Eine Erinnerung an die Zukunft" fand dieses Wochenende in Berlin eine Konferenz zur Kritischen Theorie statt, deren Programm keinen Zweifel daran lassen sollte, daß die Aktualität kritisch-theoretischen Denkens schon aus ihrem Anspruch heraus zu begründen sei: die Prozesshaftigkeit des Denkens nicht in den Stillstand zu bannen, dem zu Erkennenden den Vorrang gegenüber dem identifizierenden Geist zu gewähren, das Erkannte immer wieder auf seinen Zeitkern zu prüfen, sich selbst zu reflektieren auf die Voraussetzungen des Erkennens... na, Kritische Theorie eben: Aktualität soll ihr nicht von außen zukommen, sondern schon ihren Kern bilden, also das sein, was sie im Grunde ausmacht.

Die leidige Frage nach der Aktualität gehört natürlich auch zum akademischen Business, man muß schließlich nachweisen können, daß man noch Relevantes und Nützliches beizutragen hat, und nicht zuletzt dient sie der Selbstvergewisserung, denn wer möchte schon gerne obsolet sein? Dummerweise ist es aber nicht so einfach, Aktualität ist keine Gesinnungsfrage, kein Indiz für Nützlichkeit und eben auch kein Identitätsprogramm, sondern erst mal eine Menge Arbeit.

Offensichtlich hatte sich daher ein Großteil der Vortragenden dafür entschieden, sich lieber einer Rekonstruktion von Theorien und Forschungsprojekten zu widmen als der Frage nach Aktualität und damit ziemlich genau das zu machen, was sie wohl schon seit 40 Jahren tun: den Nachlaß der Kritischen Theorie verwalten. Es wirkte ein bißchens so als solle die Erinnerung an das, was einmal war, schon ausreichend sein, um die Türe zur Zukunft einen Spalt breit offen zu lassen. Die Zeitreise in Jahre, in denen Kritische Theorie noch en vogue war, in denen man aus der Hinterlassenschaft der "ersten Generation" noch die Welt erklären und akademische Karrieren stricken konnte, sollte lebendig halten, was seine gedanklichen Wurzeln in den 20er, 30er und 40er Jahren hat. Die Beschwörung der Vergangenheit fungiert dabei nicht vornehmlich als Platzhalter für die uneingelösten Versprechen von Freiheit und Gleichheit, sondern eher als das Freihalten einer Lücke, das durch den Tod der großen Theoretiker der Kritischen Theorie entstanden ist, als könne unmöglich jemand im vorgebenen Rahmen einen eigenen Gedanken fassen und über das hinaus gehen, was Horkheimer, Adorno und andere irgendwo bereits einmal gesagt haben, und sei es in einer Randnotiz.

Diese Form von Autoritätshörigkeit hat Sebastian Neubauer in seinem Co-Referat zu Gunzelin Schmid-Noerrs Beitrag über Autoritarismus und Widerstand großartigerweise auch als solche benannt. Daß ein Wachrütteln aus der ritualisierten Wiederholung des Ewiggleichen überhaupt nötig ist, zeigt auch wie festgefahren diese angeblich doch so flexible und zeitbezogene Kritische Theorie mittlerweile ist. Eigentlich müßte man doch meinen, daß mit einem dermaßen formalen Einwand kein Blumentopf mehr zu gewinnen sei. Leider ist das Gegenteil der Fall.

Statt sich auf die Anstrengung einer gedanklichen Auseinandersetzung mit einer Welt einzulassen, die immer unübersichtlicher erscheint, beschränkt man sich auf die Auslegung alter Texte und die narzisstische Selbstversicherung, "auf der richtigen Seite zu stehen", also irgendwie zu den Guten zu gehören. Wenn man sich in Zeiten der Geschichtslosigkeit noch an die Möglichkeit einer Zukunft erinnert, wenn man an der Utopie genauso festhält wie vor fast 90 Jahren die gefeierten Vorbilder, die sich im Schatten der scheiternden Russischen Revolution mit dem Vorsatz zusammenfanden, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, dann ist das offensichtlich schon Klammer genug um gemeinsam eine Konferenz zu besuchen. Und ich will damit diese Selbstvergewisserung gar nicht klein reden - wer ist schon frei von der Hoffnung das richtige zu tun und zu denken?

Problematisch wird's halt dann, wenn es so gar kein Korrektiv mehr gibt, also wenn nicht mehr darauf reflektiert wird, weswegen man sich für so außergewöhnlich schlau, progressiv und revolutionär hält. Das wäre dann nämlich ganz einfach, die eigene Programmatik vom Zeitkern der Wahrheit auch soweit ernst zu nehmen, als man sich mit aktuellen Phänomenen und gegenwärtiger Gesellschaft überhaupt einmal beschäftigt und sich eben nicht mit der Rede von der überwältigenden Irrationalität der Verhältnisse, der allenfalls noch mit Zynik zu begegnen sei oder mit Verweisen auf die "Konkurrenz" (Foucault), also einfach mit der Weigerung sich der Komplexität des Themas zu stellen aus der Affaire zu ziehen. Wenn jemand einen Vortrag hält, der sämtliche Vorgaben zur Redezeit sprengt und dann leider trotzdem nicht mal ansatzweise in der Gegenwart ankommt, sondern sich hauptsächlich auf eine Wiedergabe der Forschungsergebnisse anderer beschränkt, dann ist das doch ein recht eindeutiges Symptom für "Unkritische Theorie".

Worin genau soll auch ein Beitrag zur Diskussion bestehen, der auf einem immerhin recht avancierten Niveau genau dasselbe macht wie jeder Studi im Einführungskurs-Referat, nämlich nach bestem Wissen und Gewissen eine Theorie zusammenzufassen, deren Schöpfer als unantastbare Autorität auf dem Gebiet vorgestellt wird? Ist das schon alles, was man von einer sog. Kritischen Theorie noch erwarten darf? Daß sie immer weiter zur "Frankfurter Schule" gerinnt, auch dort, wo das Gegenteil behauptet wird?

Die Kritische Theorie überlebt nicht, indem man ständig ihre Bedeutung konstatiert, sondern indem man sie ernst nimmt und weiterdenkt. Indem man eben nicht die Augen verschließt vor dem, was draußen in der Welt passiert und auch nicht einfach anderen das Feld überläßt. 

Paradigmatisch für die Abschottung von der Gegenwart scheint mir das Ressentiment gegen die Kulturwissenschaften, die sich mit den handfesteren, echten Gesellschaftswissenschaften Soziologie, Politologie oder Psychologie nicht messen könne. Daß die Kulturwissenschaften einfach nur eine neuere Inkarnation der sich von der Philosophie abspaltenden Einzelwissenschaften sind, kann man dann einfach mal unter den Tisch fallen lassen. Gedanken über die Differenz hat man sich eh nicht gemacht, weil gefühlte Wahrheit an der Stelle ja auch schon reicht.

Der heteronome Gegenstand, der sich der Erkenntnis nicht einfach öffnen möchte, wird dann - ganz klassisch - unter das Allgemeine subsumiert und so zum Verschwinden gebracht. Von dem, was in der letzten Zeit, großzügig interpretiert: in den letzten 20 Jahren, anderswo diskutiert wurde - Queer Theory, Postcolonialism und Diversity beispielsweise - muß man so dann auch gar nicht sprechen und das einzige Thema, das man nicht mehr weiter ignorieren konnte, wir schreiben ja immerhin schon 2013, ist der Feminismus, der am Samstagabend sein eigenes Podium unter dem Titel "Gegenwart des Patriarchats" bekam. (Der Fairness halber muß ich sagen, daß es durchaus zeitgemäßere 'Nebenveranstaltungen' im Rahmen der Konferenz gab, wie bspw. den offenen Raum von Fabian Henning zum neuen Materialismus in Kultur- und Geschlechterwissenschaften. Ich spreche hier nur vom Hauptprogramm Freitag/Samstag.)

Nach bis zu diesem Zeitpunkt immerhin schon fünf Vorträgen der Art "Alte Männer erklären die Welt (nach Adorno)" hätte man für dieses Panel auch die Konferenz selbst als Steilvorlage für eine kritische Auseinandersetzung verwenden können. Man hätte auch konkreter fragen können, wie es sein kann, daß jemand auf dem Podium einen Satz sagen kann wie "Man kann nur mißbrauchen was man auch gebrauchen kann (sic!)" ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Daß sich dort Männer auslassen, die laut denken, daß ein hierarchisches Geschlechterverhältnis wohl irgendwas damit zu tun haben müsse, daß Männer Frauen schlügen, oder die ohne Rücksicht auf Verluste alle verfügbare Redezeit an sich reißen und im Zuge ihres Selbstdarstellungstrips lieber noch Befindlichkeiten aus ihrem Leben mitteilen als jemand anderen zu Wort kommen zu lassen.

Die Hoffnung, daß es sich wenigstens beim natürlich vollständig aus Frauen besetzten Patriarchats-Podium um eine Veranstaltung mit Gegenwartsbezug handeln könne, wurde leider auch nur so semi eingelöst. Die Moderation war super, der Vortrag von Christine Kirchhoff wie üblich klug und informativ, aber so richtigen Biss konnte auch dieses Panel nicht entwickeln, zumal Kirchhoffs psychoanalytisches Update der Bedeutung des Ödipuskomplexes für die Ausprägung von (Geschlechts-)Identität Roswitha Scholzes Gemeinplatz von der Analogie zwischen Wertabspaltung und Geschlechterverhältnis nichts so richtig entgegenzusetzen hatte.

Am Samstagabend fragte ich mich ob meine Erwartung, nicht per Express ins Jahr 1968 zurückgeflogen zu werden, doch etwas hoch angesetzt gewesen sein könnte. Eigentlich weiß ich ja schon, daß der deutsche Universitätsbetrieb der Kritischen Theorie alle Zähne gezogen hat und sie auch in politischen Kreisen mehr Toolbox als Denkbewegung ist. Vermutlich hatte ich mir einfach eine deutlichere Präsenz jüngerer Theoretiker*innen erhofft, die ja soetwas wie den Lichtblick in der ganzen Sachen darstellten. Allerdings war ja auch ich ganz gezielt zum 'Promi-Gucken' angereist, denn wer weiß, wie oft man noch Gelegenheit haben wird, die Nachlaßverwalter des Instituts für Sozialforschung live zu sehen.

Vielleicht hätte ich die ganze Sache auch als harmloses Unterfangen einordnen können, wäre nicht im Zuge des Rückgriffs auf alte sozialpsychologische Theorien wieder ein Phänomen mit hochgeschwemmt worden, mit dem ich wirklich schon nicht mehr gerechnet hatte und bei dem ich sofort einen pitbull-artigen Beißreflex entwickle: der Verklausulierung des Nationalsozialismus zum großen Unbekannten, dem undefiniert Barbarischen, Grauenhaften und Unbennenbaren. Wer immer noch Faschismus sagt statt Nationalsozialismus und lieber Irrationalität als Auschwitz, wer behauptet, die Deutschen hätten den Holocaust verdrängt, der sollte aber ganz dringend ein paar Jährchen Auseinandersetzung mit dem Thema nachholen.

Detlev Claussen hat in seinem Eröffnungsvortrag auf vieles verwiesen, was eigentlich bekannt und offensichtlich sein müßte, unter anderem darauf, daß Adorno die Frage nach der Willkür des Überlebens keine Ruhe gelassen hat. Diese survivor's guilt kann man nicht einfach als Täter*in der zweiten, dritten oder vierten Generation okkupieren. Der Rückzug aufs Nicht-verstehen-Können ist für eine*n Deutsche*n nichts weiter als die Weigerung sich mit dem zu befassen, was unsere Ur-Groß-Eltern verbrochen haben und was sich immer noch auf unsere Gesellschaft auswirkt. Der bequeme Ausweg, das Vergessen, Rationalisieren und Nicht-wissen-wollen mit einem Verdrängen gleich zu setzen, ist ein Versuch, den eigenen Anspruch aufs Trauma legitimieren, nicht dem Ausdruck verleihen, was sich an Grauenhaftigkeit dem Verstehen entzieht.

Wenn man es ernst meint mit der Kritischen Theorie, dann kann man sich nicht einfach auf akademische Terrain zurückziehen. Gerade in der Abstraktion vom Geschehenen, in der Verkümmerung zur floskelhaften Bekenntnis verschwindet das Historisch-Spezifische - und  das ist doch der ganze Punkt der Negativen Dialektik, als Denkbewegung, die wissen will was etwas ist, nicht worunter etwas fällt.

Das Leiden an den Verhältnissen ist nicht für alle gleich - und man kann es nicht einfach zum vagen Joker für das Somatische machen, für das was im Begriff nicht aufgeht, um sich dann umso mehr aufs inhaltsleere Rumphilosophieren verlegen zu können. 

Claussens Vortrag, der um die großen Geheimnisse der Kritischen Theorie wenig Bohei machte, sondern eher als Erinnerung an das daher kam, was ich unter Basics fassen würde, hat in der Retrospektive viel von dem vorweggenommen, was sich im späteren Verlauf der Konferenz als problematisch herausstellte - er sprach u.a. davon, daß Kritische Theorie sich vom Eurozentrismus verabschieden müsse, daß sie theoretische Impulse aufnehmen müsse und die Anstrengung unternehmen, sich dem Gegenstand zu stellen. Es ist schon sehr tragisch, daß das, was eigentlich so banal erscheint, bei weitem keine Selbstverständlichkeit ist, daß schon die Anerkennung dessen, womit man sich nicht (ausreichend) beschäftigt etwas ist, was man nicht erwarten kann.


Vielleicht hätte das Hauptprogamm des Sonntags, mit einem Vortrag von Jordi Maiso über Kulturindustrie und einer Podiumsdiskussion über »Widersprüchliche Totalität und widerständige Subjektivität« mich aus der Resignationsfalle noch retten können, aber meine Konferenzkapazitäten waren vom Ärger über soviel Blödsinn bereits aufgebraucht. Man kann also sagen, daß mein Vorhaben, meine kleinen grauen Zellen am geistigem All-you-can-eat-Buffet mit minimalem Energieaufwand wieder etwas aufzupäppeln und mich mit einer ausgesprochen faulen Konsumentinnenhaltung auf den billigen Plätzen zu räkeln, um mir für lau ein bißchen kritischen Input reinzufahren, nicht gerade von Erfolg gekrönt war. War vielleicht auch von vorneherein ein seltsamer Plan. ;-)



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