Eine Erinnerung an die Zukunft der Vergangenheit

Unter dem Titel "Eine Erinnerung an die Zukunft" fand dieses Wochenende in Berlin eine Konferenz zur Kritischen Theorie statt, deren Programm keinen Zweifel daran lassen sollte, daß die Aktualität kritisch-theoretischen Denkens schon aus ihrem Anspruch heraus zu begründen sei: die Prozesshaftigkeit des Denkens nicht in den Stillstand zu bannen, dem zu Erkennenden den Vorrang gegenüber dem identifizierenden Geist zu gewähren, das Erkannte immer wieder auf seinen Zeitkern zu prüfen, sich selbst zu reflektieren auf die Voraussetzungen des Erkennens... na, Kritische Theorie eben: Aktualität soll ihr nicht von außen zukommen, sondern schon ihren Kern bilden, also das sein, was sie im Grunde ausmacht.

Die leidige Frage nach der Aktualität gehört natürlich auch zum akademischen Business, man muß schließlich nachweisen können, daß man noch Relevantes und Nützliches beizutragen hat, und nicht zuletzt dient sie der Selbstvergewisserung, denn wer möchte schon gerne obsolet sein? Dummerweise ist es aber nicht so einfach, Aktualität ist keine Gesinnungsfrage, kein Indiz für Nützlichkeit und eben auch kein Identitätsprogramm, sondern erst mal eine Menge Arbeit.

Offensichtlich hatte sich daher ein Großteil der Vortragenden dafür entschieden, sich lieber einer Rekonstruktion von Theorien und Forschungsprojekten zu widmen als der Frage nach Aktualität und damit ziemlich genau das zu machen, was sie wohl schon seit 40 Jahren tun: den Nachlaß der Kritischen Theorie verwalten. Es wirkte ein bißchens so als solle die Erinnerung an das, was einmal war, schon ausreichend sein, um die Türe zur Zukunft einen Spalt breit offen zu lassen. Die Zeitreise in Jahre, in denen Kritische Theorie noch en vogue war, in denen man aus der Hinterlassenschaft der "ersten Generation" noch die Welt erklären und akademische Karrieren stricken konnte, sollte lebendig halten, was seine gedanklichen Wurzeln in den 20er, 30er und 40er Jahren hat. Die Beschwörung der Vergangenheit fungiert dabei nicht vornehmlich als Platzhalter für die uneingelösten Versprechen von Freiheit und Gleichheit, sondern eher als das Freihalten einer Lücke, das durch den Tod der großen Theoretiker der Kritischen Theorie entstanden ist, als könne unmöglich jemand im vorgebenen Rahmen einen eigenen Gedanken fassen und über das hinaus gehen, was Horkheimer, Adorno und andere irgendwo bereits einmal gesagt haben, und sei es in einer Randnotiz.

Diese Form von Autoritätshörigkeit hat Sebastian Neubauer in seinem Co-Referat zu Gunzelin Schmid-Noerrs Beitrag über Autoritarismus und Widerstand großartigerweise auch als solche benannt. Daß ein Wachrütteln aus der ritualisierten Wiederholung des Ewiggleichen überhaupt nötig ist, zeigt auch wie festgefahren diese angeblich doch so flexible und zeitbezogene Kritische Theorie mittlerweile ist. Eigentlich müßte man doch meinen, daß mit einem dermaßen formalen Einwand kein Blumentopf mehr zu gewinnen sei. Leider ist das Gegenteil der Fall.

Statt sich auf die Anstrengung einer gedanklichen Auseinandersetzung mit einer Welt einzulassen, die immer unübersichtlicher erscheint, beschränkt man sich auf die Auslegung alter Texte und die narzisstische Selbstversicherung, "auf der richtigen Seite zu stehen", also irgendwie zu den Guten zu gehören. Wenn man sich in Zeiten der Geschichtslosigkeit noch an die Möglichkeit einer Zukunft erinnert, wenn man an der Utopie genauso festhält wie vor fast 90 Jahren die gefeierten Vorbilder, die sich im Schatten der scheiternden Russischen Revolution mit dem Vorsatz zusammenfanden, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, dann ist das offensichtlich schon Klammer genug um gemeinsam eine Konferenz zu besuchen. Und ich will damit diese Selbstvergewisserung gar nicht klein reden - wer ist schon frei von der Hoffnung das richtige zu tun und zu denken?

Problematisch wird's halt dann, wenn es so gar kein Korrektiv mehr gibt, also wenn nicht mehr darauf reflektiert wird, weswegen man sich für so außergewöhnlich schlau, progressiv und revolutionär hält. Das wäre dann nämlich ganz einfach, die eigene Programmatik vom Zeitkern der Wahrheit auch soweit ernst zu nehmen, als man sich mit aktuellen Phänomenen und gegenwärtiger Gesellschaft überhaupt einmal beschäftigt und sich eben nicht mit der Rede von der überwältigenden Irrationalität der Verhältnisse, der allenfalls noch mit Zynik zu begegnen sei oder mit Verweisen auf die "Konkurrenz" (Foucault), also einfach mit der Weigerung sich der Komplexität des Themas zu stellen aus der Affaire zu ziehen. Wenn jemand einen Vortrag hält, der sämtliche Vorgaben zur Redezeit sprengt und dann leider trotzdem nicht mal ansatzweise in der Gegenwart ankommt, sondern sich hauptsächlich auf eine Wiedergabe der Forschungsergebnisse anderer beschränkt, dann ist das doch ein recht eindeutiges Symptom für "Unkritische Theorie".

Worin genau soll auch ein Beitrag zur Diskussion bestehen, der auf einem immerhin recht avancierten Niveau genau dasselbe macht wie jeder Studi im Einführungskurs-Referat, nämlich nach bestem Wissen und Gewissen eine Theorie zusammenzufassen, deren Schöpfer als unantastbare Autorität auf dem Gebiet vorgestellt wird? Ist das schon alles, was man von einer sog. Kritischen Theorie noch erwarten darf? Daß sie immer weiter zur "Frankfurter Schule" gerinnt, auch dort, wo das Gegenteil behauptet wird?

Die Kritische Theorie überlebt nicht, indem man ständig ihre Bedeutung konstatiert, sondern indem man sie ernst nimmt und weiterdenkt. Indem man eben nicht die Augen verschließt vor dem, was draußen in der Welt passiert und auch nicht einfach anderen das Feld überläßt. 

Paradigmatisch für die Abschottung von der Gegenwart scheint mir das Ressentiment gegen die Kulturwissenschaften, die sich mit den handfesteren, echten Gesellschaftswissenschaften Soziologie, Politologie oder Psychologie nicht messen könne. Daß die Kulturwissenschaften einfach nur eine neuere Inkarnation der sich von der Philosophie abspaltenden Einzelwissenschaften sind, kann man dann einfach mal unter den Tisch fallen lassen. Gedanken über die Differenz hat man sich eh nicht gemacht, weil gefühlte Wahrheit an der Stelle ja auch schon reicht.

Der heteronome Gegenstand, der sich der Erkenntnis nicht einfach öffnen möchte, wird dann - ganz klassisch - unter das Allgemeine subsumiert und so zum Verschwinden gebracht. Von dem, was in der letzten Zeit, großzügig interpretiert: in den letzten 20 Jahren, anderswo diskutiert wurde - Queer Theory, Postcolonialism und Diversity beispielsweise - muß man so dann auch gar nicht sprechen und das einzige Thema, das man nicht mehr weiter ignorieren konnte, wir schreiben ja immerhin schon 2013, ist der Feminismus, der am Samstagabend sein eigenes Podium unter dem Titel "Gegenwart des Patriarchats" bekam. (Der Fairness halber muß ich sagen, daß es durchaus zeitgemäßere 'Nebenveranstaltungen' im Rahmen der Konferenz gab, wie bspw. den offenen Raum von Fabian Henning zum neuen Materialismus in Kultur- und Geschlechterwissenschaften. Ich spreche hier nur vom Hauptprogramm Freitag/Samstag.)

Nach bis zu diesem Zeitpunkt immerhin schon fünf Vorträgen der Art "Alte Männer erklären die Welt (nach Adorno)" hätte man für dieses Panel auch die Konferenz selbst als Steilvorlage für eine kritische Auseinandersetzung verwenden können. Man hätte auch konkreter fragen können, wie es sein kann, daß jemand auf dem Podium einen Satz sagen kann wie "Man kann nur mißbrauchen was man auch gebrauchen kann (sic!)" ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Daß sich dort Männer auslassen, die laut denken, daß ein hierarchisches Geschlechterverhältnis wohl irgendwas damit zu tun haben müsse, daß Männer Frauen schlügen, oder die ohne Rücksicht auf Verluste alle verfügbare Redezeit an sich reißen und im Zuge ihres Selbstdarstellungstrips lieber noch Befindlichkeiten aus ihrem Leben mitteilen als jemand anderen zu Wort kommen zu lassen.

Die Hoffnung, daß es sich wenigstens beim natürlich vollständig aus Frauen besetzten Patriarchats-Podium um eine Veranstaltung mit Gegenwartsbezug handeln könne, wurde leider auch nur so semi eingelöst. Die Moderation war super, der Vortrag von Christine Kirchhoff wie üblich klug und informativ, aber so richtigen Biss konnte auch dieses Panel nicht entwickeln, zumal Kirchhoffs psychoanalytisches Update der Bedeutung des Ödipuskomplexes für die Ausprägung von (Geschlechts-)Identität Roswitha Scholzes Gemeinplatz von der Analogie zwischen Wertabspaltung und Geschlechterverhältnis nichts so richtig entgegenzusetzen hatte.

Am Samstagabend fragte ich mich ob meine Erwartung, nicht per Express ins Jahr 1968 zurückgeflogen zu werden, doch etwas hoch angesetzt gewesen sein könnte. Eigentlich weiß ich ja schon, daß der deutsche Universitätsbetrieb der Kritischen Theorie alle Zähne gezogen hat und sie auch in politischen Kreisen mehr Toolbox als Denkbewegung ist. Vermutlich hatte ich mir einfach eine deutlichere Präsenz jüngerer Theoretiker*innen erhofft, die ja soetwas wie den Lichtblick in der ganzen Sachen darstellten. Allerdings war ja auch ich ganz gezielt zum 'Promi-Gucken' angereist, denn wer weiß, wie oft man noch Gelegenheit haben wird, die Nachlaßverwalter des Instituts für Sozialforschung live zu sehen.

Vielleicht hätte ich die ganze Sache auch als harmloses Unterfangen einordnen können, wäre nicht im Zuge des Rückgriffs auf alte sozialpsychologische Theorien wieder ein Phänomen mit hochgeschwemmt worden, mit dem ich wirklich schon nicht mehr gerechnet hatte und bei dem ich sofort einen pitbull-artigen Beißreflex entwickle: der Verklausulierung des Nationalsozialismus zum großen Unbekannten, dem undefiniert Barbarischen, Grauenhaften und Unbennenbaren. Wer immer noch Faschismus sagt statt Nationalsozialismus und lieber Irrationalität als Auschwitz, wer behauptet, die Deutschen hätten den Holocaust verdrängt, der sollte aber ganz dringend ein paar Jährchen Auseinandersetzung mit dem Thema nachholen.

Detlev Claussen hat in seinem Eröffnungsvortrag auf vieles verwiesen, was eigentlich bekannt und offensichtlich sein müßte, unter anderem darauf, daß Adorno die Frage nach der Willkür des Überlebens keine Ruhe gelassen hat. Diese survivor's guilt kann man nicht einfach als Täter*in der zweiten, dritten oder vierten Generation okkupieren. Der Rückzug aufs Nicht-verstehen-Können ist für eine*n Deutsche*n nichts weiter als die Weigerung sich mit dem zu befassen, was unsere Ur-Groß-Eltern verbrochen haben und was sich immer noch auf unsere Gesellschaft auswirkt. Der bequeme Ausweg, das Vergessen, Rationalisieren und Nicht-wissen-wollen mit einem Verdrängen gleich zu setzen, ist ein Versuch, den eigenen Anspruch aufs Trauma legitimieren, nicht dem Ausdruck verleihen, was sich an Grauenhaftigkeit dem Verstehen entzieht.

Wenn man es ernst meint mit der Kritischen Theorie, dann kann man sich nicht einfach auf akademische Terrain zurückziehen. Gerade in der Abstraktion vom Geschehenen, in der Verkümmerung zur floskelhaften Bekenntnis verschwindet das Historisch-Spezifische - und  das ist doch der ganze Punkt der Negativen Dialektik, als Denkbewegung, die wissen will was etwas ist, nicht worunter etwas fällt.

Das Leiden an den Verhältnissen ist nicht für alle gleich - und man kann es nicht einfach zum vagen Joker für das Somatische machen, für das was im Begriff nicht aufgeht, um sich dann umso mehr aufs inhaltsleere Rumphilosophieren verlegen zu können. 

Claussens Vortrag, der um die großen Geheimnisse der Kritischen Theorie wenig Bohei machte, sondern eher als Erinnerung an das daher kam, was ich unter Basics fassen würde, hat in der Retrospektive viel von dem vorweggenommen, was sich im späteren Verlauf der Konferenz als problematisch herausstellte - er sprach u.a. davon, daß Kritische Theorie sich vom Eurozentrismus verabschieden müsse, daß sie theoretische Impulse aufnehmen müsse und die Anstrengung unternehmen, sich dem Gegenstand zu stellen. Es ist schon sehr tragisch, daß das, was eigentlich so banal erscheint, bei weitem keine Selbstverständlichkeit ist, daß schon die Anerkennung dessen, womit man sich nicht (ausreichend) beschäftigt etwas ist, was man nicht erwarten kann.


Vielleicht hätte das Hauptprogamm des Sonntags, mit einem Vortrag von Jordi Maiso über Kulturindustrie und einer Podiumsdiskussion über »Widersprüchliche Totalität und widerständige Subjektivität« mich aus der Resignationsfalle noch retten können, aber meine Konferenzkapazitäten waren vom Ärger über soviel Blödsinn bereits aufgebraucht. Man kann also sagen, daß mein Vorhaben, meine kleinen grauen Zellen am geistigem All-you-can-eat-Buffet mit minimalem Energieaufwand wieder etwas aufzupäppeln und mich mit einer ausgesprochen faulen Konsumentinnenhaltung auf den billigen Plätzen zu räkeln, um mir für lau ein bißchen kritischen Input reinzufahren, nicht gerade von Erfolg gekrönt war. War vielleicht auch von vorneherein ein seltsamer Plan. ;-)



http://kritischetheorie.org/






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